Yoga kann man üben, ohne zu fragen, was wir da eigentlich wie tun – und warum. Es fühlt sich gut an, und eigentlich reicht das ja auch aus. Aus dem Erfahren können die Antworten von selbst kommen – die Praxis erschließt dir die Theorie, du tust, spürst, fühlst und verstehst: die Zusammenhänge, die Verbindung/en, weniger mit dem Kopf, vielmehr mit Körper und Herz.
Yoga hat eine lange Tradition, deren Wurzeln weit verzweigt sind. Es gibt nicht den einen Weg, der für alle richtig wäre – aber es gibt deinen Weg, und diesen darfst du mit dem größten Selbstvertrauen und -bewusstsein beschreiten, und natürlich mit Unterstützung von Lehrenden/Praktizierenden, die Erfahrungen auf ihrem/dem Yogaweg gesammelt haben – wir gehen gemeinsam, verbunden in unserem Bestreben, bewusster und liebevoller zu leben.
Yoga bedeutet Einssein, Verbundenheit, Verbindung. Diese Verbindung darf bewusst und liebevoll erfolgen, du verbindest dich mit dir, deinem Körper, dem Atem, der Erde, der Luft, allen Elementen, mit dem Raum, der Welt in dir, um dich herum, dem großen Ganzen, Universum, dem, was alles zusammenhält: Liebe. Oder Gott/Göttin, dem Göttlichen, wenn du willst. Mit dem reinen Bewusstsein, dem Urgrund, der Quelle von allem. Es bleibt dir selbst überlassen, diese Erfahrung bewusst zu machen und zu verstehen, niemand braucht dir Antworten vorzugeben, du brauchst nichts und niemandem zu glauben.
Der Weg des Yoga – bewusste, liebevolle Verbindung, Körper auf der Erde, deine Aufmerksamkeit ganz bei dir, dir als körperlichem und atmendem = spirituellem Wesen … – ist das Ziel des Yoga: Verbindung, bewusst und liebevoll, mit allen und allem. Und darum tun wir das – weil sich Leben in Verbundenheit viel, viel besser anfühlt. Damit ist auch verständlich, dass Yoga nicht nur auf der Matte oder dem Meditationskissen stattfindet – das ganze Leben ist eine Einladung, dich mit dem zu verbinden, was da ist, immer, um dich herum und in dir. Anfang und Ende ist eins, deine Intention – was, wie, warum willst du leben?
Die Praxis beginnt mit einer klaren Haltung zu der Welt, in der wir leben, und zu dir selbst. In Patanjalis Yogasutra werden für den Achtgliedrigen Übungspfad (Ashtanga Yoga) je fünf Empfehlungen für die Verbindung zur Umwelt und mit uns gegeben, die Yamas und Niyamas – da geht es los mit Gewaltlosigkeit/Freundlichkeit und Nicht-Lügen/Ehrlichkeit, es wird uns auch geraten, Zufriedenheit zu üben. Schaffen wir es, nur diesen ersten Punkt zu erfüllen, die Freundlichkeit, jederzeit, allen gegenüber, dann brauchen wir womöglich gar nichts weiter – weil es aber so menschlich ist, nicht in jeder Lebenslage durch und durch freundlich zu sein, dürfen wir üben, und zwar mit unserem physischen Körper. Das dritte Glied des Ashtanga-Wegs ist Asana, der Sitz oder die Körperhaltung, oder auch unsere Verbindung zur Erde. Diese/r darf stabil und angenehm sein, heißt es, oder auch fest und freudvoll (sthira-sukham asanam) – und da es für die meisten von uns nicht nur angenehm ist, länger beispielsweise mit gekreuzten Beinen zu sitzen, üben wir auch andere Haltungen, um den Körper auf das Sitzen und damit die Meditation vorzubereiten. Pranayama, das bewusste Atmen (und damit auch Lenken von Lebensenergie) ist das vierte Glied und bildet eine Brücke vom grobstofflichen Körper hin zum Feinstofflichen: Energie, Geist, Seele. Das Beobachten des Atems führt uns nach innen, und das Besondere am Atem: Er fließt auch ohne unser Zutun, aber wir können ihn beeinflussen, vertiefen, intensivieren, beschleunigen, verlangsamen, und damit unser Nervensystem und Gesamtbefinden wirksam beeinflussen: Beruhigen wir beispielsweise den Atem, beruhigen wir uns. Sind wir durch das bewusste Atmen mehr bei uns, in unserer Ruhe und Bewusstheit angekommen, ziehen wir die Sinne nach innen zurück: Pratyahara. Wir nehmen uns wahr – was ist da, wenn von außen zumindest für kurze Zeit nichts an Information kommt, keine Ablenkung, kein Alarm …? Dieser Schritt führt uns zur Konzentration, Dharana, wir halten unsere Aufmerksamkeit beim Objekt der Betrachtung – das kann der Atem sein, ein Körperbereich oder Gefühl oder Gedanke, Mantra – und hieraus kann Kontemplation, Meditation entstehen, sich von selbst einfindet: Dhyana. Wir werden immer mehr eins mit dem Objekt der Betrachtung. Gehen wir dann ganz in dieser Erfahrung auf, vergessen wir, dass wir betrachten, sind wir eins, ist die Trennung überwunden, wie in: Ich bin der Atem, Ich bin einfach, nicht mehr, nicht weniger – und dieser Zustand des Einsseins, Einfach-Seins, kann uns großes Glück schenken, sozusagen aus dem Nichts heraus, eine stille Freude, ein Gefühl von Ganzheit, Samadhi. Wir kennen diesen Zustand alle, aus Augenblicken, wenn wir die Zeit und alles um uns herum vergessen, wenn wir “im Flow” sind, im Hier und Jetzt, ohne Gedanken an ein Davor und Danach, ohne Zweifel und Entzweiung einfach nur bei uns, wir selbst. Worte für diesen Zustand zu finden ist nicht das Leichteste, weil wir einen Ort jenseits der Worte, der Dualität des sprachlichen Denkens betreten – aber so weit ein Versuch, zu vermitteln, was wir hier erfahren können und was du sicherlich schon erfahren hast. Der hier beschriebene Yogaweg ist ein Übungsweg, der uns immer wieder und öfter und zuverlässiger zu diesem Zustand der Verbindung mit uns selbst (und damit einem größeren Ganzen) führen kann. Wir können auch auf anderen Wegen dorthin kommen, und wir können immer länger in der Anbindung bleiben.
Yoga ist immer eine spirituelle Praxis. Wir können uns natürlich darauf beschränken, die Körperübungen zu nutzen, um stärker und beweglicher zu werden – aber sie wirken sich auch immer auf das ganze System aus. Sobald du deine Aufmerksamkeit zu dir holst, ganz bewusst in deinen physischen Körper eintauchst, machst du dich schon auf den Weg hin zum Einssein mit dir. Sobald wir uns bewusst als atmende Wesen erleben, erleben wir unsere Spiritualität. Das zugrundeliegende lateinische Wort spiritus bedeutet ursprünglich Atem, Atmen, außerdem Geist, Seele. Im Griechischen bedeutet psyche ursprünglich kühle Luft, Lebensatem, und ebenfalls Seele. Und unser deutsche Wort Atem hängt zusammen mit dem Sanskritwort atman, in der hinduistischen und Yogaphilosophie die Seele. Die Individualseele Jivatman (das ‘kleine’ Selbst; jiv wiederum bedeutet atmen, leben) verbindet sich mit bzw. erkennt sich als eins mit der Weltseele oder dem höheren Selbst Paratman, und dem Höchsten, ewigen Hintergrund alles Seins, dem Göttlichen, Brahman.
Inwieweit wir diesen Schritt mitgehen wollen, diese Idee mögen, dass es da etwas Größeres gibt, in dem wir immer aufgehoben sind – das dürfen wir selbst erleben und entscheiden. Für mich ist da dieses ganz klare Gefühl, ein Spüren und ein Wissen, dass dem so ist, dass etwas verbindendes Gutes – Liebe – in uns allen ist, dass wir in unserem Wesen eben dies sind, aber ich brauche dieses Wesen nicht Gott zu nennen, ich brauche auch zum Glück niemanden von irgendetwas zu überzeugen. Wir dürfen alle unsere Erfahrungen machen, mit uns, unser Selbst kennenlernen, uns mit der Seele verbinden, Seligkeit erleben.
Ebenso dürfen wir für uns entscheiden, warum wir üben. Wollen wir einfach mehr Wohlbefinden für uns selbst – wunderbar. Wollen wir auch mehr Wohlbefinden für die Welt – womöglich noch wunderbarer, für uns alle.